ADHS im Erwachsenenalter

Chaotisch, zerstreut, spontan, feinfühlig - ist das ein Problem?

Fachartikel von Barbara Tröbinger

Ein Gefühl der Getriebenheit und der inneren Unruhe, erhöhter Bewegungsdrang, ständig auf Achse sein, reden wie ein Wasserfall, andere oft stören oder unterbrechen, erhöhte Ablenkbarkeit, Verträumtheit, Schwierigkeiten bei einer Sache zu bleiben, häufiges Vermeiden oder "vor sich Herschieben" unliebsamer Verpflichtungen und Tätigkeiten, Zerstreutheit, Chaosneigung, schlechtes Zeitmanagement (Unpünktlichkeit, häufiges Vergessen von Terminen und Vereinbarungen...), schnelle Stimmungswechsel, häufige emotionale Überreaktionen, Reizbarkeit, ein überschießendes Temperament - dies sind typische Symptome einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS).

3 bis 5 von 100 Erwachsenen leiden unter ADHS. Auch im höheren Alter bestehen die Symptome bei einem Großteil der Betroffenen fort. Jedoch wird nur bei 4 von 10.000 Erwachsenen eine entsprechende klinische Diagnose gestellt. In Europa erhält nur jeder fünfte bis zehnte Betroffene nach einer Diagnosestellung auch irgendeine Form der Behandlung (medikamentös, therapeutisch). Bei Frauen wird eine ADHS im Erwachsenenalter seltener und später erkannt und entsprechend behandelt, als bei Männern. Dies dürfte daran liegen, dass bei Frauen mit ADHS eher Symptome der Unaufmerksamkeit, Verträumtheit und emotionale Probleme im Vordergrund stehen und weniger Symptome der Hyperaktivität und Impulsivität. Weiters wird nach meiner klinischen Erfahrung ADHS bei Hochintelligenten ("High Functioning"-ADHS) seltener erkannt und die merkliche Beeinträchtigung setzt teils erst im Übergang ins Erwachsenenalter ein, wenn die Anforderungen an die Selbstorganisation und die Alltagsstressoren steigen.

ADHS-typische Charakterzüge müssen nicht immer zu einer Beeinträchtigung führen. Dies hängt nicht nur von der Intensität der Symptome ab, sondern auch von Umgebungsbedingungen und von persönlichen Stärken, Talenten und Ressourcen.

Für einen Leistungssportler etwa oder einen freischaffenden Künstler können die mit ADHS verbundenen Persönlichkeitseigenschaften sogar ein Schlüssel zum Erfolg sein: Reaktionsschnelligkeit, Risikofreude, erhöhter Bewegungsdrang, Kreativität, in interessanten Tätigkeiten völlig versinken können - um nur ein paar der ADHS-typischen Stärken zu nennen.

ADHS ist eine "Life Long Condition", d.h. die ADHS-typischen Eigenschaften bestehen über die Lebensspanne. Ein Teil der Symptome war schon in der Kindheit oder Jugend vorhanden, auch wenn nicht immer in der Kindheit bereits eine Beeinträchtigung durch die Symptome bestand (z.B. wenn Bezugspersonen in der Lage waren, angemessene Struktur zu geben und in der Schule ein individualisiertes Lernumfeld geschaffen wurde). Bei bis zu 60% der von ADHS betroffenen (und entsprechend diagnostizierten) Kinder und Jugendlichen besteht im Erwachsenenalter eine Beeinträchtigung durch ADHS-Symptome fort.

Unter den ADHS-Symptomen leiden oft nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch das soziale Umfeld: Partner, Kinder, Freunde, Arbeitskollegen. ADHS führt häufiger als in der Allgemeinbevölkerung zu Partnerschaftsproblemen, zu Versagen in Leistungssituationen, zu Ausbildungsabbrüchen, zu beruflichem Misserfolg, zu finanziellen Schwierigkeiten und zu Straffälligkeit. Aber auch das Unfallrisiko und das Risiko für einige körperlichen Erkrankungen (z.B. Diabetes, Bluthochdruck, Asthma) ist bei unbehandelter ADHS erhöht.

 

 

 


Mögliche Ziele einer Psychotherapie bei ADHS im Erwachsenenalter:

Eine medikamentöse Behandlung kann, neben einer Psychotherapie, erhebliche Verbesserung bringen. Hier stehen unterschiedliche Medikamente zur Verfügung, die eine gute Verträglichkeit aufweisen und für die (bei fachgerechter Dosierung) keine körperliche Abhängigkeitsentwicklung besteht. Die Einstellung auf ADHS-Medikamente erfolgt durch einen Facharzt für Psychiatrie. Auch die medikamentöse Behandlung "komorbider" Erkrankungen (d.h. zusätzlich bestehender psychischer Erkrankungen) kann die Beeinträchtigung mindern und eine psychische Stabilisierung bringen. Insbesondere in herausfordernden Lebensphasen (Studienabschluss, neues berufliches Aufgabenfeld, Mehrfachbelastung durch familiäre und berufliche Verpflichtungen) ist eine medikamentöse Behandlung oft sehr hilfreich.

ADHS ist meist (bei bis zu 4 von 5 Betroffenen) mit anderen seelischen Belastungssymptomen (Komorbiditäten) verbunden: Depression, manisch-depressive Störung (bipolare Störung), Schlafstörungen, psychosomatische Beschwerden, Angststörungen, Zwangsstörungen, Tics, Suchterkrankungen, Borderline-Persönlichkeitsstörung, antisoziale Persönlichkeitsstörung, Autismusspektrumstörungen. Auch diese sind in der Behandlung relevant.

Manchmal stellt sich auch im Rahmen einer Psychotherapie wegen einer anderen Problematik (z.B. Burn-out, Selbstwertprobleme, Angststörungen) heraus, dass im Hintergrund eine ADHS-Symptomatik besteht. Dann kann es für Klienten auch nützlich sein, den Umgang mit den eigenen ADHS-typischen Charakterzügen und Schwierigkeiten in der Therapie zu besprechen. Darüber entscheiden allerdings Sie als Klient.

Gruppenangebote für Erwachsene
mit ADHS in Graz

Aufgrund der hohen Nachfrage biete ich seit Oktober 2023 eine systemische Therapiegruppe für Erwachsene mit ADHS an. Details und Anmeldung.

Treffpunkt ADHS: Seit Juni 2024 gibt es auch ein kostenloses Gruppenangebot für Erwachsene mit ADHS über die Stadt Graz. Termine und Anmeldung
(Anmerkung: Dieses Gruppenangebot ersetzt keine Psychotherapie oder psychiatrische Behandlung.)

Seit Anfang 2024 finden in Graz zudem kontinuierliche ADHS/Autismus-Selbsthilfe-Treffen statt (aktuell Mittwoch 18:00-20:00, unter der Leitung von Nic Bartsch und Kevin Johann). Information und Anmeldung: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.